Stille Nacht
Auch in diesem Jahr gibt es Soldaten, die den Heilig Abend im Einsatzland fern von ihren Liebsten verbringen müssen. Ich selbst habe diese Erfahrung gottseidank bisher nur einmal machen müssen. Aber dieser Heilige Abend wird mir für immer in Erinnerung bleiben.
In dem großen Verpflegungszelt steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. Schummeriges Licht und Kerzen sollen wenigstens für etwas besinnliche Stimmung sorgen. Als im August durch das Einsatzführungskommando in Deutschland abgefragt wurde, wie viele Weihnachtsbäume in diesem Jahr für das deutsche Einsatzkontingent in Kabul benötigt werden, hat das noch ein leichtes Schmunzeln bei mir ausgelöst. Der Termin für die Anforderung von Weihnachtskulturmaterial ist bestimmt in irgendeinem logistischen Konzept für den Einsatz festgeschrieben. Da bin ich sicher.
Fast Alle Soldaten, die in dieser Stunde nicht irgendwo im Missionsgeschehen eingebunden sind, sind hier versammelt. Von meinen knapp 70 Männern sind alle da bis auf zwei. Einer liegt krank im Bett, vom zweiten berichtet mir einer meiner Feldwebel, dass er sich abgemeldet hat, weil er sich ebenfalls krank fühlt.
Es gibt Hirschgulasch, Knödel und Rotkohl. Es gibt für jeden sogar ein Geschenk: Ein Taschenmesser mit integrierter LED-Taschenlampe. Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Auch wenn es gar nicht mal so ungemütlich ist, ich kann jedem aus dem Gesicht lesen, dass er eigentlich jetzt lieber mit Zuhause telefonieren würde anstatt hier zu sitzen.
Nach dem Weihnachtsessen gehe ich auf dem Weg zu meiner Unterkunft noch an meinem Arbeitsplatz vorbei, weil ich dort das Ladekabel für mein Handy vermute. Ich stutze, denn die Tür ist offen. Dann stutze ich nochmal: Ganz allein mit einer Kerze vor sich sitzt er da mit Tränen im Gesicht. Also hat er sich nicht einfach nur abgemeldet weil er sich krank fühlt. Ich schließe die Tür und setze mich zu ihm. Eine ganze Weile schweigen wir uns an. Irgendwann bricht er sein Schweigen. Er erzählt wie er an einem Heilig Abend beide Zwillinge mit einem Schlag durch einen plötzlichen Kindstod verlor. Wie er panisch versuchte beide gleichzeitig wiederzubeleben, während seine Frau den Krankenwagen gerufen hat. Von dem Hoffen und Bangen als der Notarzt alles versuchte, und von dem Moment als klar war, dass alle Mühen umsonst waren. Von der Zeit danach, und dass seitdem Weihnachten nicht mehr wie Weihnachten ist.
In meiner Ausbildung habe ich zum Thema Menschenführung vieles darüber gelernt wie man solche Situationen handhaben soll. Doch jetzt in diesem Moment lässt sich nichts davon anwenden.
Mein Zeitgefühl ist völlig weg. Irgendwann trocknen seinen Tränen und wir erzählen uns lustige Geschichten und von unseren peinlichsten Weihnachtserlebnissen. Als wir aufstehen, um zu gehen, nimmt er mich in den Arm. „Danke fürs zuhören.“
Auf dem Weg zur Unterkunft begegne ich niemandem. Meine Gedanken kreisen. Mir wird klar wie viel Glück ich eigentlich bisher im Leben hatte. Der Himmel ist sternenklar, alles ist still. Stille Nacht.